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Titel
Unter Kriegsrecht. Die schweizerische Militärjustiz 1914–1921


Autor(en)
Steiner, Sebastian
Reihe
Die Schweiz im Ersten Weltkrieg (4)
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
CHF 68.00 / € 68.00
von
Rudolf Jaun, Historisches Seminar, Universität Zürich

Die hier zu besprechende Dissertation zur Militärjustiz der Schweizer Armee entstand im Rahmen des SNF-Sinergia-Projektes «Die Schweiz im Ersten Weltkrieg». Sie ist dabei die einzige Arbeit, die sich mit einem Aspekt der durch Generalmobilmachung zum Aktivdienst aufgebotenen Staatsbürger-Armee befasst.

Streitkräfte sind als formale Kampforganisationen stark auf die Beachtung der verlangten Verhaltenserwartungen ihrer Angehörigen angewiesen. So stark, dass Truppenkommandanten bei Nichterfüllung neben Disziplinarstrafen auch förmliches Strafrecht ins Spiel bringen können. In diesem Zusammenhang entstanden spezielle Militärgerichte, welche Freiheitsstrafen und auch die Todesstrafe verhängen konnten. In der Schweiz bestand seit der Zeit der napoleonischen Epoche eine zentralisierte, d. h. eidgenössische Militärjustiz mit den dazugehörenden Strafrechtsgesetzen. Als 1914 die Generalmobilmachung der Schweizer Armee erfolgte, war die Militärjustiz von einem Tag auf den andern damit konfrontiert, die «formale Organisation» Armee durch Sanktionierung von nicht eingehaltenen Verhaltenserwartungen funktionsfähig zu erhalten. Da es damals kein Bundesstrafrecht und auch kein Bundesstrafgericht gab, wurden eine Vielzahl von Delikten, welche nicht armee-intern verübt wurden, der Militärjustiz zur strafrechtlichen Aburteilung zugewiesen.

Der Prozess des organisationsinternen und externen politischen Druckaufbaus, die Überforderung der Militärjustiz, die Versuche der Entlastung, aber auch der politischen Liquidierung bilden den Untersuchungsgegenstand der Dissertation von Sebastian Steiner. Die Arbeit setzt sich zum Ziel, die Militärjustiz im «Spannungsfeld von Armee, Recht, Politik und Gesellschaft» zwischen 1914 und 1921 darzustellen und zu analysieren. Dabei geht der Autor stets von der «Entwicklung einer bürgerlich dominierten kapitalistischen Industriegesellschaft» und einer opponierenden «Arbeiterbewegung» aus.

Spätestens 1915 entdeckte die von Klassenkampf-Ideen beseelte Parteilinke der SP das Militär wieder als ergiebiges Skandalisierungsobjekt, insbesondere die Militärjustiz. Gleichzeitig diente aber der erste SP-Präsident, Alexander Reichel, Bruder des Oberauditors und seine Nachfolger, Albert Steck (Leutnant), Wilhelm Fürholz (Hauptmann), Karl Zgraggen, (Hauptmann) Fritz Studer (Hauptmann), Emil Klöti (Oberleutnant) und Gustav Müller (Oberstleutnant) der Schweizer Armee als getreuliche Offiziere. Dies zeigt an, dass die «Militärfrage» innerhalb der Partei nach Kriegsausbruch an Brisanz gewinnen musste.

Steiner unterteilt die «Leidensgeschichte» der Schweizer Militärjustiz in vier Phasen. Im Kapitel zur Vorkriegszeit werden Vorüberlegungen zur strafrechtlichen Sanktionierung zum Schutz der «Interessen des Heeres» bei einer Generalmobilmachung gegen Sabotage und Behinderung der Mobilisierung durch Demonstrationen und Streiks dargestellt. Die beiden Autoren des einschlägigen Gutachtens, Max Huber und Dietrich Schindler, Söhne der Inhaber der Maschinenfabrik Oerlikon, stellt Steiner als Agenten des Industriekapitals dar, obwohl sie eher in den Kategorien des Völker- und Kriegsvölkerrechts dachten. Ihre Vorschläge einer juristischen und strafrechtlichen Sicherung der «Interessen des Heeres» wurden nicht realisiert, aber für die Ausformulierung der «Kriegszustandsverordnung vom 6. August 14» verwendet.

Mit Akribie beschreibt der Autor die Expansion der Arbeitslast des «Militärjustizsystems» (5 Obersten, 6 Oberstleutnante, 15 Majore, 23 Hauptleute, 4 Oberleutnante) und der Militärgerichte, welchen auch Soldaten und Unteroffiziere angehörten. Treffend wird herausgearbeitet, dass sie für die Beurteilung der nicht-militärischen Delikte «überhaupt nicht vorbereitet» waren. Etwas dramatisierend wird dann die Verfolgung von Kriegswirtschafts- und Geheimhaltungsdelikten als «Militarisierung des Rechtssystem» dargestellt. Zweifellos war die Militärjustiz ein «bürgerlicher Ort», genau so wie das Korps der sozialdemokratischen Rechtsanwälte und Richter. Der Bruder des Oberauditors, der Sozialdemokrat Alexander Reichel ging keineswegs «einen anderen Weg» und wurde Oberst der Militärjustiz.

Den Zeitabschnitt 1916–1917 nennt der Autor treffend Rekalibrierung der Militärjustiz. Angestossen durch den «Oberstenprozess» erfolgte eine Stärkung der Kompetenzen des Bundesrates; auch der Oberbefehlshaber befand, dass die Notverordnungsdelikte die Militärjustiz in Verruf brachten und die Minimalstrafen des total veralteten Militärstrafbuches von 1851 viel zu hoch waren. Kompensatorisch und notbehelfsmässig wurde die «bedingte Begnadigung» und ein zentralisierter Strafvollzug, welcher mehr auf «Erziehung und Verbesserung» ausgerichtet war, eingeführt. Schub bekamen diese Reformen durch die im August 1916 eingereichte Militärjustiz-Abschaffungsinitiative der SP, welche die Militärjustiz als Institution, aber nicht das veraltete Militärstrafrecht abgeschafft hätte.

Der letzte Zeitabschnitt der Untersuchung 1917–1921 fokussiert stark auf das Vorfeld des Landesgeneralstreiks vom November 1918 sowie auf den Landesstreik-Prozess vor «Kriegsgericht» im Jahre 1919. Mit dem Beschluss des Allgemeinen schweizerischen Arbeiterkongresses vom 27. / 28. Juli 1918, wurde ein landesweiter «Generalstreik» ins Auge gefasst. In diesem Umfeld begannen Bundesrat und Generalstab sich intensiv mit der Frage zu befassen, wie einer Ergreifung der Macht durch einen revolutionären Generalstreik begegnet werden könnte («Verordnung gegen die Gefährdung und Störung der innern Sicherheit der Eidgenossenschaft»). Ein Eskalationsprozess zwischen militärischen Präventionsmassnahmen in Zürich und der revolutionären Zürcher Arbeiterunion trieben das Oltener Aktionskomitee in die Enge, welches um die Führung nicht zu verlieren, den Landes-Generalstreik ausrief. Mit der detaillierten Auswertung der Anklagen und Urteile im Landesstreik-Prozess leistet der Autor Pionierarbeit, ebenso mit der quantitativen Analyse aller Militärjustizverfahren 1914–1921.

Die Arbeit zeigt sich als akribisch in der Recherche und in der Auswertung der Quellen. Die Analytik und die Resultate sind fast immer differenziert, aber durchgehend an der zeitgenössischen Problemwahrnehmung und parteipolitischen Beurteilung der zunehmend vom Klassenkampf inspirierten Parteilinken der SP orientiert. Dieser Bias, der sich durch die ganze Arbeit zieht, hätte vermieden werden können, wenn der Autor die grundlegenden Werke zu Recht und Jurisprudenz von Niklas Luhmann (Funktion und Folgen formaler Organisation; Rechtssoziologie) und Jürgen Habermas (Faktizität und Geltung) zu Rate gezogen hätte. Dies hätte auch ermöglicht, den versuchten Ansatz eines europäischen Vergleichs zu schärfen. Sowohl die Armeen als formale Kampforganisationen wie das Strafrecht waren seit dem frühen 19. Jahrhundert transnationale Phänomene. Dies hätte erlaubt, die systemimmanenten Problemlagen der Streitkräfte, der Kriegführung und der Anwendung strafrechtlicher Normen frei zu legen und sich weniger an den zeitgenössischen Kampagnen, Beurteilungen und Politiken einer sich radikalisierendenPartei auszurichten.

Zitierweise:
Jaun, Rudolf: Rezension zu: Steiner, Sebastian: Unter Kriegsrecht. Die schweizerische Militärjustiz 1914–1921, Zürich 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 495-496. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.

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